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Borderline – ein Modebegriff?

Emil Kraepelin, der Begründer der modernen Psychiatrie, schrieb vor mehr als 120 Jahren, «... dass sich den Anhängern verschiedener diagnostischer Systeme angesichts des konkreten Falles ähnliche Schwierigkeiten der gegenseitigen Verständigung ergeben, wie einstmals den Erbauern des Babylonischen Turmes.»

 

Wenn schon Fachleute Mühe haben, wie soll sich ein Grundversorger zurechtfinden?

 

In der ICD-10 wird die Borderline-Störung als Unterform der emotional instabilen Persönlichkeit erwähnt. In seinem Wörterbuch für Psychiatrie von 1968 nennt Haring die Borderline-Störung noch nicht. In der sehr empfehlenswerten dritten Auflage: «Psychiatrie» von 2004 schreibt er u. a., dass sich dieses «psychoanalytische Konstrukt» in den letzten Jahren in der psychiatrischen Klinik zunehmender Beliebtheit erfreut. Demzufolge wird der Hausarzt relativ häufig mit dieser Diagnose konfrontiert

 

Im Psychischen laufen gleichzeitig viele Intentionen und Tendenzen ab, die miteinander konkurrieren, sich überschneiden, überdecken oder aufheben. Ich versuche, einige psychopathologische Gegebenheiten zum Thema anschaulich zu beleuchten.

 

1947 prägte die Psychoanalytikerin Melitta Schmideberg den Begriff «borderline» für psychopathologische Störungen, die sich weder in das Gebiet der Neurosen noch in das der Psychosen einordnen liessen. Sie sah ein Hauptmerkmal des «borderline» im Fehlen von affektiven Kontaktmöglichkeiten und einer damit verbundenen Einsamkeit. Diese offenbar in ihrer frühen psychischen Entwicklung gestörten Menschen erleben eine ihnen fremdbleibende Realität als Leere. Verletzt von ihrer Unfähigkeit zu angemessenen Regulierungsprozessen entwickeln sich Katastrophengefühle mit Wut gegen die Mitmenschen, denen negative Attribute angehängt werden. Borderline-Patienten sind «Stabil in ihrer Instabilität.»

 

Bis vor kurzem blieb Borderline eine Verlegenheitsdiagnose für psychisch schwer gestörte Patienten. Im «modischen» Sprachgebrauch setzt sich zwar der Begriff Borderline-Syndrom durch, doch bleiben die Interpretationen heterogen bis kontrovers. Je nach Ansicht werden Suchten, narzisstische und infantile Persönlichkeiten sowie asoziale Persönlichkeitsstrukturen zu Borderline-Störungen gezählt.

 

Nach meiner Meinung sind Borderline-Patienten infolge einer gestörten Ich-Entwicklung in der semantischen Kommunikation (Interpretation des Wahrgenommenen) behindert. Das führt oftmals zu Fehlinterpretationen nach denen im kopflosen Handeln die expressiven Affekte die Oberhand gewinnen. Durchgehend ist ihr psychisches Erleben irgendwie verstümmelt, man könnte sagen, sie sind durch das Vorherrschen archaischen Haltungen emotional versteinert. In der Therapie teilen sie dem Therapeuten lediglich eine unpersönliche Funktion zu. Die Attribute der Beziehung sollen ausschliesslich jene sein, die ihren momentanen Bedürfnissen entsprechen. Erfüllt der Therapeut die an ihn gestellten Erwartungen, dann scheint die Beziehung eine Zeit lang tragfähig, bis es schliesslich doch zu den unvermeintlichen Enttäuschungen kommt, da es einfach nicht möglich ist, den unrealistischen, unreifen Forderungen des Patienten auf die Dauer zu entsprechen. Plötzlich wird der Therapeut feindlich erlebt, beim Patienten dominieren negative Affekte mit Verachtung und Ärger. Bei der stürmischen Dramatisierung des archaischen Affekterlebens kann – wie erwähnt – eben nicht damit gerechnet werden, dass sich der Patient der Vernunft bedient. Der Borderline-Patient befindet sich in einem fortwährenden Alarmzustand, er erlebt Angst nicht als Signal, auf das er situationsgerecht reagieren kann. Mehrheitlich stehen hinter allem unbewusste Ängste, verlassen zu werden, die damit verbundenen bedrohlichen Gefühle von Leere und Einsamkeit sind dem Patienten als unheimlich nur zu gut bekannt. Das Bedürfnis nach einem Halt, das kann ein Mitmensch sein, ein Tier, ein Gegenstand ist allgegenwärtig. Die Illusion einer stabilen affektiven Beziehung auf der Basis einer unterstellten Resonanz zerfällt jedoch sehr rasch, sobald der Andere unerwartet anders reagiert. Borderline-Patienten spalten in paranoid-schizoider Weise die Welt in eine gute, die verwöhnt und eine böse, die frustriert. Da aber einerseits auch gute Beziehungen gelegentlich enttäuschen, andererseits auf Frustrationen nur mit Aggression reagiert werden kann, muss versucht werden, das therapeutische Bündnis vor auftauchenden Aggressionen zu schützen, um Abbrüche zu vermeiden. Übrigens wenden sie Aggressionen häufig gegen sich selbst etwa in Form von Selbstbeschädigungen oder als tiefe depressive Verstimmungen.

 

Daraus ergibt sich die Frage: Welches ist die angemessenste Form, auf die dem Patienten zur Verfügung stehende eingeschränkte affektive Kommunikation so zu antworten, dass ihm ein beruhigendes Sicherheitsgefühl vermittelt werden kann? Dem Management kommt in der Behandlung grosses Gewicht zu. Gestärkt werden sollen die Fähigkeiten, Aufschub zu ertragen und eine ausreichende Frustrationstoleranz zu entwickeln. Der Patient hat das Recht auf Besänftigung. Mit entsprechenden Medikamenten können sowohl die chaotischen Affektausbrüche, die bedrohlichen, panikartigen Ängste als auch depressive Syndrome günstig beeinflusst werden.

 

Seit 1967 entwickelt der Psychoanalytiker Otto Kernberg aufgrund klinisch-empirischer Erfahrungen ein Begriffsgebäude der Borderline-Persönlichkeitsorganisation. Für ihn ist das Borderline-Syndrom eine abgrenzbare und relativ stabile Konfiguration. Borderline Patienten weisen zwar Funktionsweisen neurotischer Symptome in abgeschwächter Form auf, doch geht es ihm vor allem darum, Borderline-Strukturen von den klassischen Neurosen wie Zwangsneurose, Hysterie, Phobie abzugrenzen.

 

In seinem Katalog sprechen folgende Symptome für eine Borderline-Störung:

  • 1. Das Auftreten von traumatischen, desorganisierenden Ängsten
  • 2. Multiple Phobien verhindern, der Angst auszuweichen und führen zu schweren sozialen Beschränkungen
  • 3. Zwangssymptome, die Idealzustände anstreben, wobei alle Abweichungen abgewiesen werden
  • 4. Hysterische Dämmerzustände und alle Arten von Amnesien
  • 5. Polymorph-perverse sexuelle Neigungen, wegen Fehlen der geringsten libidinösen Befriedigung
  • 6. Hypochondrische Neigungen wegen mangelnder Körperbeziehung
  • 7. Depression, als affektive Psychose bei fehlender Trauermöglichkeit
  • 8. Identitätsdiffusion, als Grad der Beeinträchtigung des Selbstgefühls
  • 9. Dominierender Einfluss aggressiver Bedürfnisse

Keines der Symptome ist für sich genommen pathognomonisch für das Borderline-Syndrom, erst wenn miteinander oder nacheinander zwei oder mehr der erwähnten Symptome auftreten, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Borderline-Struktur handelt.

 

Kernberg empfiehlt zum Erfassen der unterschiedlichen Charakterstörungen eine Ergänzung der Borderline-Diagnose:

  • 1. Depressive Reaktion mit verschiedenen Angstsymptomen
  • 2. Depressiv-masochistisch
  • 3. Borderline-Syndrom bei einer infantilen Persönlichkeit mit paranoiden Zügen
  • 4. Schizoide
  • 5. Hypomanische
  • 6. Anankastische Persönlichkeiten

Für viele Autoren stellt sich in erster Linie das Problem einer Abgrenzung von Borderline-Fällen gegenüber den Psychosen, einerseits der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie, andererseits die aus dem manisch-depressiven Formenkreis. Je nach Fall schlagen sie vor, psychotherapeutische Massnahmen durch Neuroleptika oder Antidepressiva bzw. Kombinationen zu ergänzen.

 

Es gibt keine «reinen» Befunde. Benedetti kommt bei seinen gründlichen Überlegungen über die Borderline Diskussion zu dem Schluss, dass alle Autoren, die seit Jahrzehnten zu dem Thema Stellung nehmen, eine befriedigende Antwort schuldig bleiben.

 

 

Dr. med. Hans Geigenmüller, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, Busswil TG.

 

Medizin Spektrum
 
01.08.2005 - dde
 



 
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