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MS-Therapie Update

Fakten zur Multiple Sklerose

Die Multiple Sklerose (MS) ist in unseren Breitengraden eines der häufigsten neurologischen Leiden, welches bei jungen Erwachsenen zu einer bleibenden Invalidität führt. Ausgehend von einer relativ hohen Prävalenz von ca. 100 Fällen pro 100’000 Einwohner errechnet man, dass in der Schweiz ca. 8’000 Personen an MS erkrankt sind [1]. Die Inzidenz von 3-4 Fällen/100’000 Ew./Jahr bedeutet konkret, dass z.B. im Kanton Bern alle 10 Tage eine MS neu diagnostiziert wird.

 

Betroffen sind vor allem junge Erwachsene, beginnt doch die Krankheit in 70 % der Fälle zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr [2]. Resonanzmagnetisch lassen sich allerdings auf MS verdächtige Veränderungen bereits früher feststellen und können der klinischen fassbaren Symptomatologie zeitlich vorangehen [3]. Zudem besteht aus unbekannten, wahrscheinlich hormonellen Gründen, ein signifikanter Geschlechtsunterschied, so dass Frauen in der Regel ungefähr doppelt so häufig wie Männer erkranken. Bei den primär chronischen Verlaufsformen verschwindet dieser Geschlechtsunterschied.

 

Auch wenn die MS keine eigentliche Erbkrankheit darstellt, deutet doch die familiäre Häufung auf eine genetische Disposition hin, ohne dass bisher ein bestimmtes Gen hierfür verantwortlich gemacht werden könnte. Man nimmt eher an, dass die Krankheit polygen gesteuert ist und dass verschiedene Gene mit jeweils nur geringem eigenen Einfluss steuern, ob die Erkrankung entsteht und wie sie sich entwickelt. Obwohl ein endgültiger Beweis aussteht, geht man davon aus, dass es bei genetisch prädisponierten Individuen zu einer sogenannten autoimmunen Reaktion gegen Bestandteile des Nervensystems kommt [4]. Pathogenetisch sieht es so aus, dass körpereigene autoreaktive Lymphozyten mit Hilfe sogenannter Adhäsionsmoleküle die Bluthirnschranke durchqueren und unter Freisetzung von Botenstoffen (Tumor-Nekrose-Faktor, Interferon-gamma) und Entzündungsmediatoren (Komplementsystem) die isolierende myelinhaltige Markscheide der Nervenfasern angreifen und zerstören. Einem Forschungsteam aus der Schweiz ist es kürzlich gelungen, jene Zellen zu identifizieren, welche an der Bluthirnschranke als sogenannte «Verräterzellen» fungieren und den T-Zellen geradezu den Weg in das ZNS weisen [5]. Diese autoimmune Reaktion wird möglicherweise im Verlauf der Pubertät durch einen viralen Infekt oder durch andere Umwelteinflüsse getriggert. Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Virus und Markscheide könnte eine derartige «Verwechslung» begünstigen. Während banale Infektionen – meist der oberen Luftwege – als auslösende Faktoren eines MS-Schubes anerkannt sind, ist es nicht gesichert, ob Schwangerschaften, psychischer Stress oder ebenfalls mangelnde Sonneexposition mit verminderter Vitamin D Synthese begünstigende Faktoren darstellen. Während früher die Meinung galt, dass die Axone intakt bleiben und dass lediglich die Myelinscheiden der Entzündung anheimfallen, finden sich heute zunehmend Hinweise für einen relativ früh im Krankheitsgeschehen einsetzenden axonalen Untergang im Sinne einer Degeneration [6].

 

Pathologisch-anatomisch ist die MS durch disseminierte, grossflächige Entmarkungsherde mit reaktiver Gliose charakterisiert, den sogenannten Plaques. Solche Plaques können sich irgendwo in der weissen Substanz des Zentralnervensystems bilden, werden aber besonders häufig entlang der langen, stark myelinisierten Fasern gefunden. Auf elektrophysiologischer Ebene kommt es je nach Ausmass dieser Schädigung zu einer Verlangsamung oder einem kompletten Unterbruch der motorischen Erregungsleitung in den Nervenbahnen mit konsekutiver Lähmung, Muskelschwäche und Müdigkeit. Im sensorischen Reizleitungssystem hingegen können die elektrischen Reizleitungsimpulse verzerrt weitergeleitet werden, was zu schmerzhaften Missempfindungen führen kann. Letztlich kann es vorkommen, dass entblösste motorische und sensible Nervenfasern sich kurzschliessen und durch ephaptische Überleitung zu paroxysmalen Phänomenen, wie einer Trigeminusneuralgie, Anlass geben. Die klinischen Symptome der MS sind entsprechend der Lokalisation der Entzündungsherde vielfältig, wobei zu Beginn der Erkrankung meist Missempfindungen, Sehstörungen und eine beeinträchtigte Gehfähigkeit auftreten. Im Verlauf können dann spastische Paresen, eine Ataxie, Blasen- und Sexualstörungen das klinische Bild beherrschen. Nicht selten sind auch die höheren Hirnleistungen betroffen, was Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, der Auffassungsgabe und der Gefühlswelt zur Folge haben kann. Auch auf das soziale Umfeld, besonders auf die Familie, den Arbeitsplatz und die Freizeitmöglichkeiten kann die MS ihre Auswirkungen haben.

 

Der natürliche Verlauf der Krankheit ist nicht voraussehbar und von einem Patienten zum anderen verschieden. Bei der Mehrzahl der Betroffenen kommt es zunächst zu einem schubförmig-remittierenden klinischen Verlauf, wobei später häufig die Remissionen zunehmend unvollständig sind und sich letztendlich daraus eine sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform ergibt [7]. Bei der primär chronisch verlaufenden Form hingegen entwickelt sich die Behinderung schleichend ohne eigentliche Schübe. In letzter Zeit wurde darauf hingewiesen, dass diesen verschiedenen Verlaufsformen auch unterschiedliche pathogenetische Mechanismen zu Grunde liegen könnten [8].

 

Da meist eine Latenz von im Mittel 3 Jahren zwischen den Erstsymptomen und der Diagnosestellung besteht, beginnt der Stress der Erkrankung für den Betroffenen eigentlich bereits vor der Diagnosestellung mit oft als unheimlich anmutenden Symptomen, welche – weil namenlos – schwierig zu verarbeiten sind. Das Wissen um die Diagnose MS ist dann erschütternd, das vorher intakte Selbstbild wird jäh angegriffen und von langer Hand vorgefasste Zukunftspläne werden zerstört. Manchmal entwickelt sich eine pathologische Trauerreaktion mit anhaltender Hoffnungslosigkeit, Freudlosigkeit und Unvermögen sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Auch wenn absolut gesehen die Überlebensrate von MS Betroffenen heute fast derjenigen von gesunden Individuen gleichkommt, muss doch die relativ hohe Suizidrate von 7% beachtet werden [9]. Da von Seiten der Schulmedizin noch keine sicher wirksamen Therapien angeboten werden können, werden sich mehr als die Hälfte der Betroffenen in einfühlsamer Weise alternativen Methoden zuwenden, welche ebenfalls ihr Los an Enttäuschung bringen [10]. Oft hat der MS-Betroffene eine lange medizinische Odyssee hinter sich und er wird jeder neuen therapeutischen Massnahme mit einer Mischung von Skepsis und Hoffnung auf eine Wunderheilung entgegentreten.

 

Medikamentöse Beeinflussung des Krankheitsprozesses

Da die Ursache der Erkrankung nicht bekannt ist, gibt es bisher auch keine wirksame kausale Therapie. Kortikosteroide im Schub verkürzen zwar die Schubdauer, es ist aber nicht erwiesen, dass sie allfällige Restsymptome verringern. Auch hat ihre Verabreichung keinen Einfluss auf die Häufigkeit von Rückfällen d.h. späteren, neuen Schüben. Ebenfalls ist nicht restlos geklärt, ob Steroide (Methylprednisolon) aufwendig i.v. als Solumedrol® oder nur einfach und billiger oral, als Medrol®, zur Bekämpfung der Schübe verabreicht werden sollen [11]. Eine Dauertherapie mit Steroiden lässt sich hingegen in keiner Art rechtfertigen!

 

In den letzten Jahren haben die Therapieberichte mit Beta-Interferonen (Avonex®, Betaferon®, Rebif®) sowie Copolymer I (Copaxone®) zu grossen Hoffnungen Anlass gegeben. Diese immunmodulierenden Substanzen vermindern bei schubweisen Verläufen die Rückfallhäufigkeit um ein Drittel und die Häufigkeit schwerer Schübe um die Hälfte. Neuerdings konnten Betainterferone auch eine Wirksamkeit bei sekundär progredientem Verlauf zeigen, wenn noch deutliche klinische oder kernspintomographisch fassbare Hinweise für eine entzündliche Krankheitsaktivität vorhanden waren. Obwohl auch bei diesen Verlaufsformen eine positive Wirkung auf die aufgepfropften Schübe (Schubrate, Schwere der Schübe), als auch auf die Progression in klinischen Studien belegt ist, bleibt ihre Wirkung in der Langzeittherapie noch nicht eindeutig geklärt. Verglichen mit den bisher angewandten Immunsuppressiva, die einen zweifelhaften oder bescheidenen Effekt hatten und mit einem nennenswerten Behandlungsrisiko verbunden waren, stellen die relativ geringen Nebenwirkungen des Beta-Interferons (mit Ausnahme der kosmetisch störenden Hautrötungen, sowie eines Grippe-ähnlichen Zustandes in den ersten Behandlungswochen oder -monaten) und von Copolymer I sicher einen Fortschritt dar. Jedoch bringen auch diese Medikamente noch keine Heilung der MS und unter dieser Behandlung finden sich immer noch Patienten die Schübe durchmachen und sich bezüglich ihrer Behinderung verschlechtern. Wegen dem gesamthaft doch bescheidenen Einfluss der Interferone auf die sekundär progrediente Phase der MS wurde die Wirtschaftlichkeit bei dieser Indikation in Grossbritannien ernstlich hinterfragt [12]. Der aktuell im deutschsprachigen Raum angewandte Konsensus bezüglich der Indikation dieser kostspieligen Behandlungen wurde kürzlich in seiner zweiten, revidierten Fassung auf Deutsch publiziert [13].

 

Während erste Resultate eines neuen Medikamentes der 2. Generation von Immunmodulatoren vielversprechend aussahen (AFFIRM-Studie mit Natalizumab/Tyasabri®) und mit einer Schubreduktion von 66% die Fachwelt aufhorchen liessen, wurden die gehegten Hoffnungen jäh gedämpft, nachdem 2 an der Studie teilnehmende Patienten einer progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie erlagen und das Medikament dann freiwillig aus dem Markt zurückgezogen wurde. Der Vollständigkeit halber sei noch die Möglichkeit erwähnt, bei rasch progredienten Verläufen eine intensivere Immunsuppression mit Mitoxantron (Novantron®) zu versuchen. Da aber die Substanz kardio- und hepatotoxisch ist, sollte die Behandlung in spezialisierten Zentren stationär durchgeführt werden.

 

Zumal sich die Hinweise mehren, dass die zunehmende Behinderung auf einem allmählichen Untergang der Nervenzellen im Sinne einer Degeneration beruht, konzentriert sich eine neue Forschungsrichtung auf die Neuroprotektion. Dabei wird versucht Medikamente zu entwickeln, die Axone vor dem Untergang schützen. Letztlich stehen im experimentellen Stadium Versuche mittels pluripotenten Stammzellen, um eine Reparatur der geschädigten Neurone zu erwirken.
 


Dr. med. Claude Vaney, FMH Neurologie, Chefarzt der neurologischen Rehabilitations- und MS-Abteilung, Berner Klinik, Crans-Montana.

 

Referenzen
1. Kesselring J. Epidemiologie. In: Multiple Sklerose .5.Auflage. Stuttgart: Kohlhammer; 2005.
2. Weinshenker BG, Bass B, Rice GPA et al. The natural history of multiple sclerosis: a geographically based study I. Clinical course and disability Brain 1989;112:133-46.
3. Brex P, Cicarelli O, O’Riordan J, Sailer M, Thompson A, Miller D. A longitudinal study of abnormalities on MRI and disability from multiple sclerosis. NEJM 2002; 346:158-164.
4. O’Connor P. et al. Key issues in the diagnosis and treatment of multiple sclerosis. An overview. Neurology 2002; 59 (Suppl 3).
5. Greter M, Becher B et al. Dendritic cells permit immune invasion of the CNS in an animal model of multiple sclerosis. Nat Med. 2005 Mar;11(3):328-34. Epub 2005 Feb 27.
6. Trapp BD, Peterson J, Ranshoff RM, et al. Axonal transection in lesions of multiple sclerosis. NEJM 1998; 328:278-285.
7. Lublin FD, Rheingold SC. Defining the clinical course of multiple sclerosis: results of an international survey. National MS Society (USA) Advisory Committee on Clinical Trials of New Agents in Multiple Sclerosis. Neurology 1996; 46:907-911.
8. Luchinetti CF, Brueck W, Rodriguez M, Lassmann H. Distinct pattern of multiple sclerosis pathology indicates heterogeneity in pathogenesis. Brain Pathology 1996; 6: 259-274.
9. Sadovnik AD, Eisen K, Ebers GC: Cause of death in patients attending a multiple sclerosis clinics. Neurology 1991; 41: 1193-1196.
10. Berkmann CS: Use of alternative treatments by people with multiple sclerosis. Neurorehabilitation and Neural Repair 1999; 13: 243-254.
11. Barnes D, Hughes RAC, Morris, RW et al. Randomized trial of oral and intravenous methylprednisolon in acute relapse of multiple sclerosis. Lancet 1997; 349:902-905.
12. Forbes RB, Lees A, Waugh N, Swinglwer RJ. Population based cost utility study of interferon beta-1b in secondary progresssive multiple sclerosis. BMJ 1999; 319:1529-1533.
13. Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG). Immunmodulatorische Stufentherapie der Multiplen Sklerose. Nervenarzt 2001; 72: 150-157

 

 
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01.08.2005 - dde
 



 
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