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Editorial

Die Psychiatrie wird immer wichtiger!

 

Die zunehmende Bedeutung der Psychiatrie ist auch aus dem kürzlich erschienenen Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (www.obsan.ch) zur psychiatrischen Epidemiologie in der Schweiz abzuleiten: Jeder zweite Schweizer leidet mindestens einmal in seinem Leben an einer psychischen Störung. Am häufigsten sind Depressionen, gefolgt von Angststörungen und substanzinduzierten Störungen. Ausserdem sind zahlreiche körperliche Erkrankungen wie Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Magen-Darm-Beschwerden psychisch mitbedingt.

 

Allerdings kommt nur einem kleinen Teil der Erkrankten professionelle Hilfe zu. Als eine Folge dieser ungenügenden Versorgung sind psychische Störungen inzwischen zum häufigsten Grund für Invalidität geworden. Ferner lassen die Daten vermuten, dass die Kranken nach der ersten ärztlichen Untersuchung nur zum Teil nach den derzeit gültigen Therapiestandards behandelt werden.

 

In diese Richtung weist auch die aktuelle ESEMeD-Studie (European Survey of Epidemiology of Mental Disorder), die in 6 EU-Ländern über 22’000 Personen untersucht hat:

  • 1. 25% der über 18jährigen Europäer leiden mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung.
  • 2. Depressionen und Angsterkrankungen werden von Ärzten häufig nicht erkannt und
  • 3. Depressive und Angstkranke suchen vielfach keinen Arzt auf: 63% der Befragten mit Depressionen bzw. 74% mit Angststörungen gingen trotz erheblicher Beschwerden während der letzten 12 Monate nicht zum Arzt.
  • 4. Nur ein kleiner Teil (12% der Depressiven und 7% der Angsterkrankten) erhielten eine adäquate Behandlung in Form einer Kombination aus Medikation und Psychotherapie. Viele erhielten entweder keine Therapie oder sie wurden mit ungeeigneten oder mit nicht primär indizierten Medikamenten behandelt. So etwa erhielten 20% der schwer Depressiven nur eine Monotherapie mit einem Anxiolytikum!

Es dürfte ein wesentlicher Grund für diese besorgniserregende Situation sein, dass psychische Erkrankungen noch immer mit einem erheblichen Stigma besetzt sind und tabuisiert werden. Anstatt sich behandeln zu lassen, erdulden viele Betroffene ihr Leiden und begehen nicht selten aus Verzweiflung Suizid.

 

Um psychische Erkrankungen frühzeitiger zu erfassen und wirksam behandeln zu können, muss das Wissen um psychische Krankheiten sowohl in Medizinerkreisen wie auch in der Öffentlichkeit unbedingt wachsen. Heute werden aber immer noch viele Patienten erst nach jahrelanger erfolgloser Behandlung und/oder wenn die Berentung ansteht, zum Psychiater überwiesen. Dann sind die Erkrankungen jedoch oft nicht mehr wesentlich zu beeinflussen, was wiederum den falschen Eindruck entstehen lässt, die Psychiatrie vermöge keine effektive Hilfe anzubieten.

 

Durch frühzeitiges Erkennen und Behandeln lassen sich die individuellen wie die gesellschaftlichen Lasten psychischer Erkrankungen deutlich reduzieren. So wäre es ratsam, z.B. bei länger als 6 Wochen persistierenden Schmerzen ohne erkennbaren organischen Grund, aber auch bei anderen unspezifischen oder unklaren somatischen Symptomkonstellationen, eine psychiatrische Abklärung zu veranlassen.


Mit den enormen Fortschritten, welche die klinische Psychiatrie in den letzten 10 Jahren auf psychopharmakologischem und psychotherapeutischem Gebiet vorzuweisen hat, konnte die Effizienz der Therapie wesentlich verbessert werden. Psychische Erkrankungen lassen sich in den meisten Fällen erfolgreich behandeln oder zumindest mildern. Diese Tatsache ist selbst unter Medizinern noch längst nicht überall geläufig. An dieser Situation sind wir Psychiater nicht ganz unschuldig. Viele Kolleginnen und Kollegen sind nur schlecht erreichbar, und der Dialog mit den somatischen Kollegen ist oft unbefriedigend.

 

Ausserdem wirkt sich offenbar die Stigmatisierung der psychischen Erkrankungen auch negativ auf das Selbstbewusstsein der Berufsgruppe der Psychiater aus. Es wäre sinnvoll, die Erkenntnisse aus der Forschung offensiv und ohne falsche Scheu zu vertreten, was zuweilen etwas Mut abverlangt. Ein typisches Beispiel ist die Elektrokrampftherapie (EKT), die nach wie vor – eine sorgfältige Indikationsstellung vorausgesetzt – die effektivste Behandlung bei therapieresistenten Depressionen darstellt und auch an unserer Klinik regelmässig angewandt wird.

 

Erfahrene Kolleginnen und Kollegen, mehrheitlich aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli Zürich, stellen in diesem Heft eine Auswahl wichtiger Themen auf dem aktuellen Wissensstand kurz und prägnant dar. So unter anderem die Therapieoptionen bei Depressionen und Psychosen, ferner die noch wenig bekannte Generalisierte Angststörung und die Soziale Angststörung, ein Kooperationsprojekt mit der Psychiatrischen Universitätsklinik Lausanne und der Schweizerischen Gesellschaft für Generalisierte Angststörungen (www.swissanxiety.ch). Ein Bericht widmet sich der spannenden Frage des Wirkungseintritts von Antidepressiva. Das Bemühen, psychische Störungen bereits im Frühstadium erfassen zu können, hat zur Entwicklung von Früherkennungsprogrammen geführt – hier dargelegt am Beispiel der Psychosen. Der Artikel über Diagnostik zeigt eindrücklich die Vor- und Nachteile aktueller Diagnosesysteme. Ein Thema, welches in Fachkreisen und in den Medien breit und kontrovers diskutiert wird, ist das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), dessen Diagnose und Therapie beim Erwachsenen in einem eigenen Artikel behandelt wird. In engem Zusammenhang hiermit steht ein Beitrag aus der Abteilung Wehrpsychiatrie, der sich mit den Auswirkungen des Amphetaminmissbrauchs respektive der Amphetamintherapie auf die Militärdiensttauglichkeit befasst. Aus unserer Abteilung «Psychiatrische Forschung», die mittlerweile weltweit zu den führenden Zentren der Alzheimerforschung gehört, stammt der Beitrag über die Behandlung der Alzheimerdemenz. Ein weiterer Beitrag widmet sich dem Spannungsfeld zwischen Psychiatrie und Somatik und ein Kongressbericht sowie die Besprechung einiger praxisrelevanter Studien runden diese Ausgabe ab. Im Namen der zahlreichen Autorinnen und Autoren wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.

 

 

Dr. med. Josef Hättenschwiler, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich



 
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