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Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie der Angststörungen: State of the Art

Allen Störungen der Angstreaktion ist gemeinsam, dass die Angst oder deren Vermeidung übermässig ausgeprägt oder unbegründet ist. 10 bis 15% aller Menschen leiden irgendwann in ihrem Leben unter einer Angststörung. Angststörungen werden hier nach ICD-10 unterteilt. Spezifische Phobien, Agoraphobien, Panikstörungen, soziale Phobien und die generalisierten Angststörungen werden jeweils störungsspezifisch behandelt (siehe Tabellen 1-5). Angststörungen bleiben oft Jahrzehnte undiagnostiziert. Angst hat viele Gesichter: Oft werden typische Angstsymptome wie Schweissausbrüche, Tremor, Palpitationen, Nausea, Schwindel, Hitzewallungen oder Dysästesien nicht als solche erkannt. Chronifizierungen sind daher häufig, aber Verhaltenstherapie und Antidepressiva verbessern die Prognose deutlich. Je früher die Behandlung, desto besser der Verlauf. Viele Angsterkrankungen, z.B. spezifische Phobien, sind ausgesprochen einfach zu behandeln.

 

Tabellen 1-5: Störungsspezifische Behandlung von Angststörungen

 

Spezifische Phobie F40.2

Angst vor bestimmten Situationen (z.B.: Höhenangst, Flugangst) oder Objekten (z.B. Spinnen)
Abgrenzung von anderen Angststörungen: Wenn mehrere Situationen vermieden werden, dann handelt es sich eher um eine Agoraphobie.
Verhaltenstherapie: Exposition mit Reaktionsverhinderung ist ausreichend und sehr wirksam (1-10 Sitzungen).
Medikation: Eine Medikation ist meistens nicht notwendig. Der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SRI) Paroxetin (10-20 mg) kann gegeben werden, ist aber noch nicht für diese Indikation zugelassen.

 

 

Agoraphobie F40.0

Angst vor Situationen, die nicht sofort verlassen werden können oder in denen Hilfe nicht rekrutierbar wäre; z.B. Menschenmengen, öffentliche Plätze, Reisen. Oft nur, wenn keine Begleitung dabei ist.
Abgrenzung von anderen Angststörungen: Agoraphobiker haben Angst vor einem körperlichen Schaden durch den angstbedingten Erregungszustand. Sozialphobiker nicht. Agoraphobiker haben Angst um ihre körperliche oder seelische Unversehrtheit und ein Sicherheitsgefühl in Begleitung anderer. Agoraphobie kommt oft zusammen mit oder nach Panikattacken vor.
Verhaltenstherapie: Notwendig ist eine Symptomtherapie mit Exposition und Reaktionsverhinderung und die darin integrierte kognitive
Umstrukturierung. Dazu kommt die Arbeit an der Persönlichkeitsentwicklung.
Dauer: 15-40 Sitzungen. Bei komorbider Depression wird erst die Depression behandelt.

Medikation: Eine Medikation ist notwendig und sehr gut wirksam. Zugelassen sind die SRI Paroxetin (20-50 mg) und Citalopram und das trizyklische Antidepressivum (TZA) Clomipramin.

Cave: Jitteriness-Syndrom (siehe Medikation bei Panikstörung)

 

 

Soziale Phobie F40.1

Angst vor Situationen, bei denen die Gefahr besteht, sich peinlich oder beschämend zu verhalten.
Angst vor Leistungssituationen. Angst vor Erröten, Zittern, Erbrechen, Miktions- und Harndrang.
Oft ohne Vermeidungsverhalten.
Abgrenzung von anderen Angststörungen: Beginnt meist in der Jugend. Es besteht eine Angst vor den sozialen Folgen der gefürchteten Ereignisse (Ablehnung). Alleine sein macht keine Angst. Angst eher in kleineren als in grossen Gruppen. Manchmal wird Angst aus Scham negiert. Oft wird die Therapie aus Scham rasch abgebrochen.

Verhaltenstherapie: Drei Bestandteil sind wichtig:

  • 1. Die Exposition, erst in Rollenspielen, dann in vivo.
  • 2. Die kognitive Umstrukturierung, die gut in die Exposition integriert wird.
  • 3. Techniken zur Veränderung fehlerhafter Informationsverarbeitung
    (Selbstaufmerksamkeit, Sicherheitsverhalten, Vorstellungen).

Wenn Fertigkeiten fehlen, wird ein soziales Kompetenztraining flexibel eingebunden. Die Therapie umfasst 20-40 Sitzungen und mehr. Bei komorbider Depression wird erst die Depression behandelt. Bei komorbider Alkoholerkrankung erfolgt zuerst die Entwöhnungsbehandlung.

Medikation: In schweren Fällen notwendig. Zugelassen sind der SRI Paroxetin (20-50 mg) und der selektive reversible MAO-AHemmer Moclobemid (600 mg).

 

 

Panikstörung F41.0

Spontane Attacken ohne Bezug zu einer Situation oder einem Objekt.
Abgrenzung von anderen Angststörungen: Panikstörungen kommen sehr oft zusammen mit Agoraphobie vor.
Verhaltenstherapie: Interne Reizkonfrontation (15-40 Sitzungen). Bei
Agoraphobie mit Panikstörung, zusätzlich Therapie wie bei Agoraphobie.
Medikation: Medikation ist notwendig und sehr gut wirksam. Zugelassen
sind die SRI Paroxetin (20-50 mg) und Citalopram. Ausserdem die TZA Clomipramin und Imipramin. Paradoxer Anstieg der Panikattacken zu Beginn der Therapie (Jitteriness-Syndrom), daher mit minimalen Dosen bis zur Zieldosis titrieren.

 

 

Generalisierte Angststörung F41.1

Diffuse Anspannung, Sorgen, Befürchtungen über alltägliche Ereignisse. Ungünstige Interaktion zwischen Sorgen, dem Versuch der mentalen Kontrolle der sorgenvollen Gedanken und Meta-Sorgen.
Abgrenzung von anderen Angststörungen: Wenn Vermeidungsverhalten auftritt, dann aus Angst, die Aktivität «nicht zu schaffen», zu Versagen. Charakteristisch sind Sorgen um alltägliche Dinge oder Angehörige (Grübeln).
Verhaltenstherapie: Sorgenkonfrontation in sensu und in vivo, kognitive Therapie (Realitätsprüfung, «Entkatastrophisieren», Umgang mit Metakognitionen), angewandte Entspannung.
20-40 Sitzungen und mehr sind notwendig.
Medikation: Meistens notwendig. Paroxetin (20-50 mg), der Serotonin-
und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin (150-375 mg), Buspiron und O-pipramol sind zugelassen.

 

Ursache von Angststörungen

Die genauen Ursachen sind unbekannt. Vieles spricht für eine genetische Veranlagung mit Beteiligung insbesondere des serotonergen Systems. Psychologische Modelle beschreiben einen Erkrankungsbeginn während typischer auslösender Lebenssituationen (Symptom als unbewusste Strategie). Oft geht es zum Beispiel bei einer Agoraphobie um uneingestandene Wünsche nach Trennung in einer einengenden Partnerschaft oder um Vermeidung in einer Situation, in der es möglich wäre, das eigene Potential durch eigenständiges Handeln zur Entfaltung zu bringen.

 

Betroffen sind oft Persönlichkeiten, die nicht wahrnehmen, dass neben dem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit auch ein zunehmender Wunsch nach Selbständigkeit vorhanden ist. Über Jahre aufrecht erhalten wird die Angststörung im Verlauf meist durch gelernte Reaktionen und das Vermeidungsverhalten. Der initial auslösende Konflikt spielt dann oft keine Rolle mehr.

 

Kognitive Verhaltenstherapie der Angststörungen

Bei allen Angststörungen müssen die Patienten vor der eigentlichen Therapie lernen, dass sie nicht an einer körperlichen Erkrankung leiden. Das Zustandekommen der körperlichen Angstsymptome muss ihnen erklärt werden. Psychoedukation kommt vor der Psychotherapie. Ein Mensch mit Angstsymptome ist oft ein völlig anderer Mensch, als der ohne Symptome. Daher beginnt die Psychotherapie mit der Symptomtherapie. Sie ist die erste von drei Säulen eines Gesamtbehandlungsplans in der Verhaltenstherapie. Wenn sich der Therapeut den Angstsymptomen zuwendet, fühlt sich der Patient in seinem Leiden ernst genommen und gewinnt Hoffnung auf ein positives Therapieergebnis. Erste Erfolge in der Symptomtherapie verschaffen ihm Freiraum und motivieren ihn zu weiteren Änderungen. Zu der Symptomtherapie gehören Expositionsverfahren (z.B. Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung, systematische Desensibilisierung) und die kognitive Umstrukturierung, die gut mit dem Expositionstraining verzahnt werden muss und Emotionen und Kognitionen miteinander neu verbindet. Oft wird aber vergessen, dass der Symptomtherapie eine intensive Vorbereitung mit Psychoedukation über die Erkrankung und Behandlung vorausgehen muss. Nach der Symptomtherapie ist das Fertigkeitentraining (Skills Training) die zweite Säule der Verhaltenstherapie. Erst wenn die Therapie der Angstsymptome gut läuft oder wenn sie deshalb stagniert, weil Fertigkeiten fehlen, wird darauf zurückgegriffen. Bei manchen sozialen Phobien müssen selbstsichere soziale Fertigkeiten aufgebaut werden, weil sie entweder nie gelernt wurden oder nicht verfügbar sind. Zum Fertigkeitentraining kann auch das Erlernen eines Entspannungsverfahrens gehören. Dabei soll gewährleistet sein, dass diese Entspannungsverfahren nicht als Sicherheitsverhalten (Vermeidung) in angstbesetzten Situationen eingesetzt werden, sondern nur zur Reduktion eines allgemeinen Anspannungsniveaus. Verfügt der Patient über die notwendigen Fertigkeiten zu angemessenem Verhalten und angemessener Bewältigung von Angst- und anderen unangenehmen Gefühlen, geht die Therapie weiter: Die dritte Säule der Therapie ist die motivationale Klärung und die Persönlichkeitsentwicklung. Dabei wird die unbewusste Strategie des Symptoms bearbeitet. Der Patient soll sich zu einem Menschen entwickeln, der seine Bedürfnisse und bisher unbewussten Ängste kennt und zugunsten von vitalen und produktiven Lebenszielen auf Schutz und Sicherheit verzichten kann. Techniken der Emotionsexposition und die kognitive Bearbeitung der dabei gemachten Erfahrung helfen dem Patienten, seinen anstehenden Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung zu vollziehen. Dieser dritte Teil der Therapie gewährleistet, dass er in zukünftigen kritischen Lebenssituationen nicht wieder erkrankt, oder dass es nicht zu einem Symptomwandel kommt.

 

Pharmakotherapie der Angststörungen

Angsterkrankungen werden mit Antidepressiva behandelt. Vor allem mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SRI). Die Dosis sollte ganz langsam bis zur Zieldosis gesteigert werden. Die Zieldosis ist höher als bei der Behandlung von Depressionen, die Wirkung tritt später ein. Bei Agoraphobie kann das 3 Monate dauern. Nach Ende der Akutbehandlung würde es in der Hälfte der Fälle zu Rückfällen kommen. Deswegen ist eine dauerhafte Erhaltungstherapie sinnvoll. Am wichtigsten ist es jedoch, dem Patienten keinen zusätzlichen Schaden zuzufügen. Deswegen dürfen Benzodiazepine nicht über längere Zeit regelmässig gegeben werden. Auch wenn es schwer ist, dem Drängen des Patienten und dem eigenen Erfolgsdruck standzuhalten. Benzodiazepine wirken kurzfristig sehr gut, sind aber lange verharmlost worden. Die langdauernde Einnahme kann nicht nur zu Toleranz und Abhängigkeit, sondern auch zu einer langfristigen Verschlechterung von Angstsymptomen führen. Nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn alles andere versagt hat oder nicht durchführbar ist, können Benzodiazepine (zugelassen ist Alprazolam) über längere Zeit eingenommen werden. Die Indikation dafür sollte nur ein in der Behandlung von Angsterkrankungen erfahrener Arzt stellen. Neue Substanzen, ohne Nachteile der Benzodiazepine, werden intensiv beforscht.

 

 

Dr. med. Michael Mayer, Oberarzt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Littenheid


Weiterführende Literatur
• Becker E S, Nündel, B: Die generalisierte Angststörung: State of the Art; Psychotherapie 8, Jahrgang 2003, Heft 1, CIP Medien
• Dengler W, Selbmann H K (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie bei Angsterkrankungen; 2000, Steinkoff (Kurzversion unter www.dgppn.de)
• Kern N, Ströhle A: Psychopharmakologie bei Angsterkrankungen; Psychotherapie 8, Jahrgang 2003, Heft 1, CIP Medien
• Konermann J, Zaudig M: Diagnostik und Differentialdiagnostik der Angststörungen nach ICD 10; Psychotherapie 8, Jahrg. 2003, Heft 1, CIP Medien
• Luderer H J, Schulz M, Mayer M: Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen. Psychiatrische Praxis; 1995 Nov, 22 (6): 231-4
• Schmid-Traub S: Angst bewältigen. Selbsthilfe bei Panik und Agoraphobie; 2001, Springer
• Schmidt-Traub S: Kognitive Verhaltenstherapie bei Panik und Agoraphobie im Jugend und Erwachsenenalter; Psychotherapie 8, Jahrgang 2003, Heft 1, CIP Medien
• Schuster M: Schüchternheit kreativ bewältigen; 2005, Hofgrefe
• Stagnier U: Kognitve Verhaltenstherapie bei sozialer Phobie – State of the Art; Psychotherapie 8, Jahrgang 2003, Heft 1, CIP Medien
• World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP): Guidelines for the Pharmacological treatment of Anxiety, Obsessive-Compulsive and Posttraumatic Stress Disorders. The Word Journal of Biological Psychiatry 2002, 3: 171-199 (Vollversion unter: www.wfsbp.org)



 
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