Acarbose in der Prävention des Diabetes
Eine Zusammenfassung der STOP-NIDDM Studie.
Titel
Acarbose for prevention of type 2 diabetes mellitus: the STOP-NIDDM randomised trial.
Autoren
Chiasson JL, Josse RG, Gomis R, Hanefeld M, Karasik A, Laakso M.
Quelle
Lancet 2002; 359: 2072-77
Abstract |
Fragestellung
Kann die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ 2 bei Patienten mit verminderter Glukosetoleranz durch Therapie mit Acarbose verhindert oder zumindest verzögert werden?
Hintergrund
Zahlreiche gut angelegte Studien der letzten Jahre stützen die Annahme, dass einem Diabetes mellitus Typ 2 eine wahrscheinlich lange Phase mit gestörter Glukosetoleranz vorausgeht. Als primärer Defekt in dieser Entwicklungsreihe wird eine Insulinresistenz postuliert, welche zunächst durch eine Insulinmehrsekretion kompensiert werden kann. Ein zunehmendes Sekretionsversagen der pankreatischen b-Zellen führt zunächst zu einer gestörten Glukosetoleranz und schliesslich zum Diabetes mellitus.
Jegliche Interventionen im Stadium der gestörten Glukosetoleranz, welche die Insulinresistenz vermindern und/oder die pankreatischen b-Zellen erhalten, sollten somit die Progression einer gestörten Glukosetoleranz in einen manifesten Diabetes mellitus Typ 2 verhindern oder zumindest verzögern.
Der a-Glukosidase-Inhibitor Acarbose verbessert die Insulinsensitivität und reduziert postprandiale Hyperglykämien, womit die pankreatischen b-Zellen entlastet werden. Die Gabe von Acarbose müsste die Progression einer gestörten Glukosetoleranz in einen manifesten Diabetes mellitus somit verzögern.
Methoden
Studiendesign
Randomisierte, placebokontrollierte, doppelblind geführte Multizenterstudie. Die Patienten rekrutierten sich aus Hochrisikopopulationen, wobei vornehmlich erstgradige Angehörige von Typ 2- Diabetikern kontaktiert wurden. Die Randomisierung erfolgte mit Hilfe eines Computerprogramms (Details nicht bekannt).
Setting
Zwischen Dezember 1995 und Juli 1998 wurden insgesamt 1’429 Patienten randomisiert. Die Patienten rekrutierten sich aus Zentren in Kanada (567 respektive 40%), Deutschland und Österreich (382 respektive 27%), Nordeuropa (334 respektive 24%) sowie Spanien und Israel (je 73 respektive 5%).
Einschlusskriterien
- Frauen und Männer im Alter zwischen 40 und 70 Jahren
- Body-Mass-Index zwischen 25 und 40 kg/m2
- Dokumentierte gestörte Glukosetoleranz, definiert als Plasmaglukose > 7.8 mmol/l und < 11.1 mmol/l 2 Stunden nach Einnahme von 75 g Glukose per os
- Nüchternplasmaglukose zwischen 5.6 und 7.7 mmol/l
Ausschlusskriterien
Im Artikel nicht explizite formuliert.
Intervention
Patienten mit gestörter Glukosetoleranz wurden zufällig der Acarbose- oder Placebogruppe zugeteilt. Zwecks Minderung der bekannten gastrointestinalen Nebenwirkungen der Acarbose (Flatulenz, Diarrhö, Abdominalkrämpfe) wurde das Medikament einschleichend dosiert (d.h. Beginn mit 50 mg pro Tag; stufenweise Erhöhung bis maximal 100 mg dreimal pro Tag oder bis zur maximal tolerierten Dosis). Die Patienten wurden zu Beginn in kalorienreduzierter Diät instruiert und zu regelmässiger körperlicher Aktivität ermuntert. Schliesslich wurden die Patienten in der Führung eines dreitägigen Protokolls über ihre Ernährung und körperliche Betätigung angeleitet, welches jeweils im letzten Monat vor der jeweiligen Visite erstellt wurde. Kontrollen durch Krankenschwestern erfolgten alle drei Monate, solche durch Studienärzte alle sechs Monate. Ein oraler Glukosetoleranztest (OGTT) wurde prinzipiell einmal jährlich vorgenommen. Wurde allerdings anlässlich einer Visite eine Nüchternplasmaglukose > 7.0 mmol/l festgestellt, dann wurde der OGTT vorgezogen.
Zum Studienende wurden alle Patienten, die noch keinen Diabetes mellitus entwickelt hatten, auf Placebo umgestellt (single-blind); drei Monate danach wurde eine erneute (abschliessende) Kontrolle vorgenommen.
Primäre Endpunkte
Der primäre Endpunkt beinhaltete die Entwicklung eines manifesten Diabetes mellitus Typ 2, definiert als Nachweis einer Plasmaglukosekonzentration
> 11.1 mmol/l 2 Stunden nach Einnahme von 75 g Glukose per os (OGTT).
Sekundäre Endpunkte
Keine definiert.
Beobachtungsdauer
Die durchschnittliche Beobachtungsdauer betrug 3.3 Jahre (SD 1.15).
Resultate
Basisdaten
Die demographischen und klinisch relevanten Ausgangswerte waren in beiden Gruppen vergleichbar. Die Nüchternplasmaglukose betrug im Mittel 6.2 mmol/l (SD 0.5); die Plasmaglukose zwei Stunden nach Gabe von 75 g Glukose per os (OGTT) lag bei 9.3 mmol/l (SD 1.0).
Patienten
Von den 1’429 Studienpatienten wurden 714 in die Acarbose- und 715 in die Placebogruppe eingeschlossen. 61 Patienten (4%) mussten ausgeschlossen werden, zumal sie keine gestörte Glukosetoleranz aufwiesen oder ihre Postrandomisierungsdaten fehlten. Nahezu ein Viertel der Patienten brach die Studie vorzeitig ab, wobei knapp die Hälfte (48%) im ersten Jahr ausschied. Der häufigste Grund für das vorzeitige Ausscheiden waren gastrointestinale Nebenwirkungen; diese traten häufiger in der Acarbose- (93 Patienten respektive 13%) als in der Placebogruppe (18 Patienten respektive 3%) auf. Siehe Tabelle 1
Gruppenvergleich der Endpunkte
- Die Behandlung mit Acarbose führte in dieser Studienpopulation im Vergleich zu Placebo zu einem geringeren Risiko, einen manifesten Diabetes mellitus Typ 2 zu entwickeln; diese Risikoreduktion blieb auch nach Korrektur für Alter, Geschlecht und Body-Mass-Index statistisch signifikant. Siehe Tabelle 2
- Unter Therapie mit Acarbose kam es – im Vergleich zu Placebogabe – signifikant häufiger zu einer Normalisierung der zuvor gestörten Glukosetoleranz (p < 0.0001).
- Nebenwirkungen waren in der Acarbosegruppe signifikant häufiger (p < 0.0001); am häufigsten traten gastrointestinale Nebenwirkungen auf, die als mild bis moderat eingestuft wurden.
Diskussion durch die Autoren
Die Autoren dieser Studie kommen zum Schluss, dass bei Patienten mit gestörter Glukosetoleranz die Progression zum manifesten Diabetes mellitus Typ 2 durch Gabe von Acarbose verzögert werden kann. Das Risiko, einen Diabetes mellitus zu entwickeln, konnte in dieser Studie um 25% reduziert werden. Überdies konnte bei dieser Studienpopulation die gestörte Glukosetoleranz durch Acarbosegabe – im Vergleich zu Placebo – signifikant häufiger normalisiert werden. Die Autoren sind daher der Meinung, dass alle Patienten mit gestörter Glukosetoleranz vom Einsatz der Acarbose profitieren können. Die Resultate dieser Studie belegen, dass 11 Patienten mit einer gestörten Glukosetoleranz 3.3 Jahre mit Acarbose behandelt werden müssen, damit bei einem Patienten die Progression in einen manifesten Diabetes mellitus Typ 2 verhindert werden kann (Number Needed to Treat).
Zusammenfassender Kommentar
Die Studie belegt einmal mehr, dass die Progression von einer gestörten Glukosetoleranz zu einem manifesten Diabetes mellitus Typ 2 sehr wohl beeinflusst werden kann. Aus Studien wie der Finnish Diabetes Prevention Study (N Engl J Med 2001; 344:1343-50) und der DPP (N Engl J Med 2002; 346: 393-403) ist gut bekannt, dass das Risiko, aus einer gestörten Glukosetoleranz einen manifesten Diabetes mellitus Typ 2 zu entwickeln, allein mit Lifestyle-Änderungen um 58% reduziert werden kann. Vor diesem Hintergrund fällt die mit Acarbose erreichte Risikoreduktion um 25% doch recht bescheiden aus. Schliesslich sei erwähnt, dass mit dem – subjektiv oft besser verträglichen – Metformin ein besseres Resultat (Risikoreduktion um 31% in der DPP) als mit Acarbose erzielt werden kann.
Problematisch ist zudem das Nebenwirkungsprofil. So wurden bei 83% der Patienten der Acarbosegruppe (Placebogruppe 60%) gastrointestinale Nebenwirkungen festgestellt; 19% der Patienten aus der Acarbosegruppe (Placebogruppe 5%) schieden schliesslich wegen nicht tolerabler Nebenwirkungen vorzeitig aus der Studie aus.
Interessant ist ferner die hier beobachtete jährliche Inzidenz des Diabetes mellitus Typ 2 in der Placebogruppe, welche im Gegensatz zu anderen epidemiologischen Studien (z.B. in der Finnish Diabetes Prevention Study 6%) mit 12.4% vergleichsweise hoch ausfiel (Selektionsbias?).
Bemerkungen zum Studiendesign und Beschreibung
Insgesamt handelt es sich um eine sehr gut angelegte, randomisierte, kontrollierte Studie. Die für diese Studie selektionierte Population wurde aus einer Hochrisikogruppe rekrutiert (vornehmlich erstgradige Verwandte bereits an Diabetes mellitus Typ 2 erkrankter Patienten). Die hier erhobenen Resultate dürften daher vornehmlich für diese Gruppe repräsentativ sein und erklären wohl auch die vergleichsweise hohe jährliche Erkrankungsrate unter alleiniger Placebogabe.
Wünschenswert wären zudem ergänzende Angaben über die Diätdisziplin und körperliche Aktivität, zumal ja gerade Lifestyle-Änderungen einen relevanten Beitrag zur Reduktion des Erkrankungsrisikos leisten.
Besprechung von Dr. med. R. Fajfr, stv. Oberarzt, Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie, Inselspital, Bern
Lancet 2002; 359: 2072-77 - J. L. Chiasson et al
15.02.2004 - dde