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Anxiogenese

Angst Gesunder vor Krankheiten ist eine häufige Erkrankung. Ärzte sind oft die Erreger.

Klaus Neftel
 

Anxiolyse ist eine häufige ärztliche Aufgabe und ein nobles Ziel. In der Vergangenheit war vielen Ärzten die Anxiogenese wichtiger. Sie waren damit  auch in allen möglichen Lebensbereichen erfolgreich, beispielsweise in der Lokomotion und der Kommunikation.

 

Berühmt sind die Reaktionen der Ärzte auf die ersten Eisenbahnen. Das Rasen von Ort zu Ort mit 25 km/h verursachte das „Delirium furiosum“, Tunneldurchfahrten zudem Entzündungen innerer Organe. 1862 publizierte „Lancet“ die abschliessenden Forschungsergebnisse dazu. Danach war die Eisenbahnkrankheit ein Sammeltopf von körperlichen und psychischen Leiden und führte zu einer Beschleunigung des Alterns, wie man sie bisher noch nie gesehen hatte. Trotzdem fuhren die Leute immer mehr und immer schneller mit der Bahn, bis das häufige Bahnfahren selbst die Krankheit wieder ausgerottet hatte.

 

Die Diskussionen um das Velo waren zusätzlich durch die Moral kompliziert. So machten sich Ärzte schwere Sorgen um den Sattel von Frauenvelos, besonders, wenn er vorne nach oben gekrümmt war, was zum Fahren alleine ja unnötig war. Man rief nach behördlichen Massnahmen.
Sogar die Glühbirne wurde als Ursache der photoelektrischen Ophtalmie erkannt. Viele Ärzte stiessen immer wieder auf Patienten, die wegen künstlichem Licht unter massiven Augenschmerzen mit heftigem Tränenfluss litten. Sicher noch im Kerzenlicht verfasst, erschien die grundlegende Arbeit darüber im „Science“.

 

Dem Zerfall von Kultur und Wissenschaft sowie der Verrohung und Verflachung des Geistes musste immer wieder vorgebeugt werden. Suchtartiges Radiohören war besonders virulent. Es führte zu schweren Wahrnehmungsstörungen und schliesslich zu defektem Hören und verformten Ohrmuscheln. Dank einem vielfältigen Angebot von Entzugsmethoden konnte man sich von diesem Übel wieder befreien.

 

Grotesk erscheinen heute zahllose Ängste um Nahrungsmittel, währendem das Fehlen von Nahrung das grösste Problem war. Lieber verhungern als von der Teufelsfrucht Kartoffel krank werden.

 

Heute ist alles anders. Unsere Meinungen und Entscheide sind evidenzbasiert und qualitätskontrolliert. Die „Multiple-Chemical-Sensititivity“ (MCS) ist zwar immer noch eine schreckliche Krankheit, aber etwas von der Angst ist ihr genommen. Sie ist nach ICD-10 klassifiziert, man kennt diagnostische Kriterien und im Fachkrankenhaus Friesland hat sich gezeigt, dass Schulungsmassnahmen, die den Wissensstand über die Erkrankung verbessern, hilfreich sind. Allerdings hat eine Studie an MCS Patienten unabhängig von einer typischen Exposition „deutlich höhere“  Anzeichen von Angst und Depression ergeben.

 

Der Elektrosmog hätte vor hundert Jahren noch Panik verursacht. Heute kennen wir die Quellen, können feinste Messungen machen und kennen Grenzwerte. Eine grosse Palette von Filtern zum Beispiel für Mobiltelefone sind zu moderaten Preisen erhältlich.

 

Auch über das Sick-Building-Syndrom weiss man viel. Von Wikipedia erfahren aktuell oder potentiell Betroffene, dass es Lebensqualität, Allgemeinbefinden, Arbeitsleben und Belastbarkeit beeinträchtigt. Es erzeugt Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Infektionskrankheiten, Müdigkeit, Schwindelanfälle, psychische Probleme, häufige Arztbesuche, Krankschreibungen, Fehlzeiten, ja Arbeitsunfähigkeit. Es besteht die Gefahr einer Medikamentenabhängigkeit. Am andern Ende dieses Tunnels gibt es kein Licht. Dort lauert immer noch die Eisenbahnkrankheit.

 

Die Liste ist lang, vieles wurde erreicht. Was genau? Sprechen wir doch in 20 Jahren wieder darüber.

 

Klaus Neftel

Mediscope

18.08.2008 - dde

 
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