Semmelweis im T-Shirt
Paradigmenwechsel werden in der Medizin ziemlich inflationär beschworen. Auf den 1.1.2008 hat das britische Gesundheitsministerium einen solchen verordnet: Die Abschaffung des Ärztekittels.
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Klaus Neftel |
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Die Leistung von Semmelweis ist legendär und sein Name populär wie etwa derjenige von Fleming. Als er starb, übten viele Ärzte ihren Beruf noch im Bratenrock aus.
Per 1.1.2008 hat das britische Gesundheitsministerium den Arztkittel als Arbeitskleid aus Hygienegründen abgeschafft. In Pressekommentaren wurden die Kittel als Dreck- und Bakterienschleudern bezeichnet. Ein prominenter deutscher Professor für Hygiene befand, dass sie ausser für das Herumtragen des Namensschildes unnütz sind.
In England ist das Problem der resistenten Spitalkeime und der im Spital erworbenen Infekte noch gravierender als bei uns. Eine Studie aus einem Spital in York kam nach Analyse von 1'000 zufällig ausgesuchten Krankengeschichten zum Schluss, dass jeder zehnte Patient Opfer eines Behandlungsfehlers oder einer nosokomialen Infektion wird. Bis zu 50% der Fälle wären vermeidbar gewesen. Wenn die Zahlen für das ganze Land repräsentativ sind, gibt es hochgerechnet auf alle stationären Patienten mehr nosokomial Infizierte als es Frauen mit Kindbettfieber in der Umgebung von Semmelweis gab. Die Situation in chirurgischen Kliniken war um 1850 natürlich ebenso katastrophal.
Manche Experten zweifeln, dass das Kittelverbot wesentlich zur Lösung beiträgt und halten die Massnahme eher für eine Demonstration der Entschlossenheit, grundsätzliche Massnahmen zu ergreifen. Die realistischen Alternativen zum Kittel werden die Übertragung von Keimen aus der Bekleidung nicht einfach aus der Welt schaffen. Allerdings hat man auch noch T-Shirts oder Hemden ohne Ärmel verordnet und Krawatten, Uhren, Ringe und Schmuck an den Armen verboten.
Auch in England ist man sich bewusst, dass man den Symbolgehalt des Arztkittels mit dem Hinweis auf seine hygienischen Probleme nicht einfach unter den Tisch wischen kann und hat zu dieser Frage Recherchen angestellt. Dabei ging es nicht um den ausgeleierten Kalauer der "Halbgötter in Weiss", sondern nüchtern um die tatsächlichen Argumente pro und kontra, vor allem aus Sicht der Patienten. Sogar Details, wie die Möglichkeit, dass eine wegen der knapperen Bekleidung sichtbare Tätowierung die professionelle Erscheinung trüben könnte, hat man bedacht.
Um den Kittel hat es schon früher Differenzen gegeben. Einer unserer Professoren hat in der Vorlesung die hinten geknöpfte und hochgeschlossene Version als Bekleidung der Arbeiter unter den Ärzten bezeichnet und die vorne geschlossene mit sichtbarer Krawatte als diejenige der Schwätzer abqualifiziert. In einem anderen Spital habe ich erlebt, wie man in einer Konkurrenzklinik auf die vorne geknüpften Kittel stolz war und in unserer auf die hinten geknöpften.
Was wäre die Reaktion bei uns auf die britische Massnahme? Semmelweis wurde angefeindet. Er musste nach Intrigen die Klinik, in der er zu seinen Erkenntnissen gekommen war, verlassen und wurde am Ende seines Lebens in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, wo er an einer Sepsis starb. Eine Bagatellverletzung war die Ursache. Sie soll während einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit Pflegern entstanden sein; nach einer anderen Version haben ihn die Pfleger erschlagen.
Mit einer solchen Hexenjagd müssten wir nicht rechnen. Hingegen gibt es immer noch den Semmelweis-Reflex. Damit bezeichnet man im englischen Sprachraum die reflexartige Ablehnung und Denunzierung einer wissenschaftlichen Erkenntnis, ohne eine Überprüfung überhaupt zu erwägen. Die Erfahrungen in England werden für uns interessant sein und den eventuellen Semmelweis-Reflex abschwächen. Eine ähnliche Verfügung hierzulande bleibt zwar vorläufig unwahrscheinlich. Eher könnte sich der Generationenwechsel in dieser Richtung auswirken. Vielleicht können die Studenten schon bald nicht mehr warten, sich zum ersten Mal das T-Shirt über den Kopf zu ziehen.
Mediscope
20.02.2008 - dde